Nachruf auf Prof. Dr. med. Friedrich Wilhelm Schwartz (1943–2024)

Nachruf auf Prof. Dr. med. Friedrich Wilhelm Schwartz (1943–2024)

Am 12. Oktober 2024 verstarb Prof. Dr. Friedrich Wilhelm Schwartz im Alter von 81 Jahren. Mit ihm verlieren wir einen herausragenden Pionier von Sozialmedizin und Public Health in Deutschland, einen leidenschaftlichen Reformer des Gesundheitswesens und einen engagierten Wissenschaftler, dessen Arbeiten sowohl national als auch international Anerkennung fanden.

Friedrich Wilhelm Schwartz wurde am 13. September 1943 in Waldenburg/Schlesien, dem heutigen Walbrzych, geboren. Die frühe Prägung durch den Verlust seines Vaters im Krieg und das Leben in der Nachkriegszeit am Rhein legten den Grundstein für seine spätere Motivation, sich für das Gemeinwohl und die Gesundheit der Bevölkerung einzusetzen. Nach seiner Schulzeit, in der er an der Hermann-Lietz-Schule Schloss Bieberstein sein Abitur mit einem Schwerpunkt auf mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern ablegte, begann Schwartz sein Medizinstudium an den Universitäten München und Marburg. Schon während des Studiums interessierte er sich für interdisziplinäre Themen und ergänzte seine medizinische Ausbildung mit Studien der Philosophie, Soziologie und Kunstgeschichte​.

Seine Dissertation, die er 1973 an der Universität Frankfurt abschloss, war eine medizinhistorische Arbeit, die sich mit der territorialstaatlichen Gesundheitspflege im 16. bis 18. Jahrhundert befasste. Diese frühe Auseinandersetzung mit den Grundlagen der modernen Sozial- und Präventivmedizin sollte später seine Karriere prägen.

Tätigkeit in der öffentlichen Gesundheitspflege

Noch im Jahr seiner Promotion begann Schwartz seine Tätigkeit als ärztlicher Geschäftsführer der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) in Köln. Dort gründete er das Zentralinstitut für die Kassenärztliche Versorgung (ZI), das sich der Entwicklung der ambulanten Versorgungsforschung und der Entwicklung von Präventionsprogrammen widmete. Insbesondere die Förderung der Krebsfrüherkennung und der Prävention bei Kindern und Schwangeren lagen ihm am Herzen.

Schon in dieser frühen Phase seiner Laufbahn zeigte sich Schwartz’ Fähigkeit, Strukturen zu schaffen und Institutionen zu prägen, die bis heute bedeutend sind. Sein Engagement im Aufbau der ambulanten Versorgungsforschung, die mit der sogenannten EVaS-Studie (Erhebung zur Versorgung im ambulanten Sektor) wichtige empirische Daten lieferte, trug maßgeblich zur Entwicklung dieses Forschungsfeldes in Deutschland bei.

1985 nahm Schwartz den Ruf an die Medizinische Hochschule Hannover (MHH) an, wo er das Institut für Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung leitete und maßgeblich die Forschungs- und Lehrlandschaft der Hochschule prägte. 1989 gründete er den ersten Ergänzungsstudiengang „Bevölkerungsmedizin und Gesundheitswesen (Public Health)“ an einer deutschen medizinischen Fakultät und legte damit eine wichtige Grundlage für die spätere Etablierung von Public Health als eigenständigem Fachgebiet in Deutschland. Die Zahl der Absolvent:innen des Hannoveraner Studiengangs liegt inzwischen bei über 500; diese sind in den unterschiedlichsten Bereichen des Gesundheitswesens tätig und wirken vielerorts ihrerseits als Multiplikator:innen.

Beitrag zu Sozialmedizin und Public Health

Die Einführung und Etablierung von Public Health in Deutschland ist untrennbar mit dem Wirken von Friedrich Wilhelm Schwartz verbunden. Bereits in den frühen 1990er Jahren erkannte er die Notwendigkeit, Public Health als wissenschaftliche Disziplin zu etablieren, um so eine evidenzbasierte Gesundheitsförderung und Prävention zu ermöglichen. Auf seine Initiative hin wurden 1992 die ersten drei Forschungsverbünde für Public Health gegründet, wobei Hannover das Zentrum des Norddeutschen Forschungsverbundes bildete​. Friedrich Wilhelm Schwartz war von 1992 bis 2002 Sprecher aller (schließlich fünf) Public Health-Forschungsverbünde. Dieses Netzwerk fand auch international Beachtung und führte zur Entwicklung zahlreicher Forschungsprojekte. 

Zu seinen weiteren Errungenschaften zählt die Gründung der Patientenuniversität im Jahr 2006, die darauf abzielt, Patient:innen und Bürger:innen fundiertes Wissen über Gesundheit und Prävention zu vermitteln und ihre Gesundheitskompetenz zu stärken. Dieses Projekt, das er in Zusammenarbeit mit Prof.in Dr. Marie-Luise Dierks ins Leben gerufen hatte, war eines der ersten seiner Art in Deutschland und spiegelt Schwartz’ Überzeugung wider, dass Bildung ein Schlüssel zur Förderung der Gesundheit in der Bevölkerung ist. Die Vision einer evidenzbasierten und patient:innenzentrierten Gesundheitsversorgung prägt bis heute die wissenschaftliche Diskussion.

Reformen und Beratungstätigkeiten

Insgesamt fast zwei Jahrzehnte war Friedrich Wilhelm Schwartz Mitglied des Sachverständigenrates für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen, von 1998 bis 2003 war er Vorsitzender dieses Sachverständigenrats. Schwartz leistete in und mit diesem Gremium bedeutende Beiträge zur gesundheitspolitischen Beratung. Besonders wegweisend war das Gutachten zur Über-, Unter- und Fehlversorgung im deutschen Gesundheitswesen, das unter seiner Leitung entstand. Seine Beratungstätigkeit reichte weit über die deutschen Grenzen hinaus. So beriet er nicht nur die Bundesregierung, sondern war auch für die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sowie die Europäische Union als Experte tätig und unterstützte unter anderem die Regierungen der Philippinen und Polens bei der Umstrukturierung ihrer Gesundheitssysteme​.

Salomon-Neumann-Medaillenträger 1996 der DGSMP, nationale und internationale Anerkennung

Für seine herausragenden Verdienste wurde Prof. Dr. Schwartz mehrfach ausgezeichnet. Im Jahr 1996 verlieh ihm die Deutsche Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention die Salomon-Neumann-Medaille als höchste Auszeichnung im Bereich der Sozialmedizin. 2006 erhielt er das Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland für sein langjähriges Engagement in der Gesundheitspolitik​. 2019 wurde Friedrich Wilhelm Schwartz Ehrenmitglied im Deutschen Netzwerk Versorgungsforschung.

Vermächtnis und persönliche Erinnerungen

Wir werden Friedrich Wilhelm Schwartz als vielseitig interessierten und humorvollen Menschen mit scharfem Verstand und klarer Sprache in Erinnerung behalten. Sein Interesse für Kunst und Kultur und seine menschliche Anteilnahme machten ihn zu einer inspirierenden Persönlichkeit, die weit über den wissenschaftlichen Rahmen hinauswirkte. 1998 gab Friedrich Wilhelm Schwartz zusammen mit anderen „Das Public Health Buch“ in 1. Auflage heraus. Das grüne Public Health-Buch stellt seit seinem Erscheinen „das“ umfassende Standardwerk zu Public Health in Deutschland dar. 

Persönlich bin ich Herrn Schwartz dafür dankbar, dass er einzelne Kurse des Hannoveraner Public Health-Studiengang für Medizinstudierende öffnete. So nahm ich 1992 (noch als Medizinstudent) an dem Epidemiologie-Kurs teil, durfte kurze Zeit später als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Arzt im Praktikum an seinem Institut tätig sein und dort die Deutsche Parkinson-Studie – die von Prof. Bernt-Peter Robra geleitete, seinerzeit weltweit größte Fallkontrollstudie zur Parkinson-Krankheit – mit betreuen. Ich lernte Friedrich Wilhelm Schwartz in den fünf Jahren meiner Tätigkeit an seinem Institut als klugen, inspirierenden, innovativen und kreativen Mentor kennen und schätzen, der einerseits eine hohe Souveränität und Autorität ausstrahlte, andererseits seinen Mitarbeitenden stets hohe wissenschaftliche Freiheiten und eine hohe Autonomie einräumte.

Nach 1996 haben sich unsere Wege fast nicht mehr gekreuzt. Allerdings: Vor wenigen Jahren – ich war auf dem Rückweg von einer Portugal-Radreise – wurde im TGV kurz nach Straßburg ausgerufen: „Ist ein Arzt an Bord“? Ich eilte durch den Zug Richtung Bistro, dort kümmerte sich bereits ein junger französischer Arzt um den Patienten. Der ältere Herr vor mir traf als zweiter ein und rief durch das Bistro: „Der Jugend den Vortritt, ich bin Pensionär!“ Es war Herr Schwartz, gerade auf dem Weg zum Herausgebertreffen zur 4. Auflage seines Public Health-Werks. Wir unterhielten uns angeregt, Herr Schwartz war auch als „Pensionär“ – genau wie 25 Jahre zuvor auf der Höhe seines beruflichen Schaffens – geistig rege, hellwach, zugewandt, interessiert und inspirierend. Die 4. Auflage dieses Standardwerks – herausgegeben von Prof. Friedrich Wilhelm Schwartz zusammen mit Prof.in Ulla Walter und anderen – war keine leichte „Geburt“, aber Herr Schwartz durfte sie 2022 erleben. „Das Public Health-Buch“ wird immer mit dem Namen Friedrich Wilhelm Schwartz verbunden bleiben.

Mit dem Tod von Prof. Dr. Friedrich Wilhelm Schwartz verliert die wissenschaftliche Gemeinschaft einen der großen Reformer des deutschen Gesundheitswesens und einen Vordenker, dessen Ideen und Initiativen das Gesundheitswesen nachhaltig verändert haben. Die Sozialmedizin und Präventionslandschaft verliert einen leidenschaftlichen Anwalt der „Bevölkerungsgesundheit“. Sein Erbe wird weiterleben in den Strukturen, die er schuf, in den unzähligen Aufsätzen und Büchern, die er schrieb und herausgab, und in den Menschen, die er inspirierte.

Berlin, Oktober 2024

Andreas Seidler für die Deutsche Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP)

gepostet von DGSMP veröffentlicht am 31. Oktober 2024